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1919 bis 2019
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150 Jahre Eisenbahngeschichte
Eine Dokumentation über die Anfänge des öffentlichen Stadtlinienverkehrs in Stuttgart - 1860 bis 1897
10.06.14 17:26 Uhr Alter: 10 Jahre
Und täglich grüßt der Lokführer - Eine Zugfahrt läuft immer gleich ab. Ist nichts Besonderes. Im Fahrerstand eines Lokführers der Brenzbahn stimmt das nicht ganz – ein Selbstversuch
Von: Joelle Reimer HZ
Ein leichter Ruck geht durch den Körper, plötzlich kippt der ganze Raum nach rechts, viel stärker als erwartet, und viel stärker, als man es als Passagier im Triebwagen wahrnimmt.

Vor jeder Abfahrt muss Dieter Seiffert die Bahnsteige kontrollieren, bevor es mit der Brenzbahn weitergehen kann. Fotos: Joelle Reimer.


Dieter Seiffert ist Lokführer – oder, wie es richtig heißt, Triebfahrzeugführer – bei

Fast wie im vordersten Wagen einer Achterbahn. 78, 80, 85 Stundenkilometer, die Kurve ist längst vorbei, die Geschwindigkeit steigt. Wärme breitet sich aus, ein sonniger Tag. So schön, dass der Sichtschutz nötig ist.

Für einen Bruchteil sind draußen rechts und links Radfahrer zu sehen, Spaziergänger, die ihreHunde ausführen.Wie eine Schneise zwischendurch.

Ein letzter Blick nach draußen, über die Felder, an den Hecken und Bäumen entlang, die zu dieser Jahreszeit schon grün sind, eine Mischung verschiedener Farbtöne.

Die Dunkelheit verschluckt alles, für einen kurzenMoment ist esNacht. Sekunden später aus dem Tunnel, das Licht blendet, tut fast weh in den Augen.

Konzentration. Den Fuß hochheben, kurz runter vom Pedal, immer im 30-sekündigen Rhythmus. Die gleiche Bewegung, den ganzen Tag, die ganze Schicht lang – und nur, um die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit sicherzustellen.

Dieter Seiffert ist als Triebfahrzeugführer mit der Brenzbahn unterwegs. Vorne sitzen, etwas Gas geben, ab und zu bremsen: Weit gefehlt. Eine Schicht dauert teilweise länger als zehn Stunden. Stunden, in denen volle Konzentration gefragt ist. Auch und vor allem,wenn die Strecke schon gut bekannt ist.

Die meiste Arbeit besteht darin,Vorgaben und Regeln genauestens einzuhalten, und davon gibt es nicht wenige.

Für jeden Meter ist die Geschwindigkeit exakt vorgeschrieben, es gibt Signale, wann gebremst werden muss, und Vorsignale, die wiederum darauf hinweisen.Magnete auf den Schienen überwachen in regelmäßigen Abständen die Geschwindigkeit des darüber fahrenden Zuges. Die Zahl sechs erscheint auf einem Schild neben den Gleisen, nun sind nur noch 60 Stundenkilometer erlaubt. Ein kritischer Blick auf den Monitor: Stimmt die Geschwindigkeit, wie viel Zeit bleibt noch bis zum nächsten Halt? Aalen. 12.49 Uhr, der Zug wird langsamer, ein sanfter Ruck, die zwei Triebwagen kommen zum Stehen. Jetzt bleiben 17 Minuten bis zur Abfahrt. Schnell aussteigen, auf demWeg zum Fahrerstand auf der gegenüberliegenden Seite den Zug kontrollieren, auf die Weiterfahrt nach Ulm vorbereiten. Eine enge zeitliche Taktung – und das die ganze Schicht über. Kurz mal Pause machen und einen Kaffee beim Bäcker holen, das geht nicht.

Ein Blick an die „neue“ Vorderseite des Zuges: Die drei Positionsleuchten funktionieren, auf der Anzeigentafel wird Ulm angezeigt.

Es zischt, ein Geräusch wie beim Öffnen einer Cola-Flasche, aber viel lauter – die Bremsprüfung war erfolgreich. „Bis zu 1000Meter kann es dauern, ehe der Zug zum Stillstand kommt“, so Seiffert. Ein Blick aufs Handy, keine Infos von der Transportleitung.

Es geht planmäßigweiter.DerMotor läuft, der Zug steht noch still. Warten, damit der Zeitplan eingehalten wird. Für die Menschen auf dem Bahnsteig ein Geräusch wie in einer Fabrik, in der zig Maschinen laufen. Im Zug selbst ist ein leichtes Rütteln zu spüren, als wolle der Zug jeden Moment von selbst losfahren.

13.10 Uhr, die Haltestelle Unterkochen fliegt vorbei, ein kurzer Schleifton. Nächster Halt: Heidenheim. Ein rotes Signal, der Zug wird langsamer, kommt zum Stehen. Den Hebel auf „wachsam“ stellen – das gibt dem System zu verstehen, dass das Signal wahrgenommen wurde. Punktförmige Zugbeeinflussung.

„Wird das Signal ignoriert oder eine vorgegebene Geschwindigkeit überschritten, kommt es zu einer Zwangsbremsung“, sagt Seiffert.Fahren nachLust und Laune?Einfach mal stärker beschleunigen,wenn der Zug Verspätung hat? Alles nicht möglich. „Ich kann nicht einfach fahren, wie ich möchte“, so Seiffert.

Giengen und Langenau sind passiert.

13.54 Uhr, Ulm Hauptbahnhof. Schon eineinhalb Stunden unterwegs. Die Zeit vergeht schnell, schneller als gedacht. Warum ziehen sich die Minuten sonst immer so unglaublich in die Länge, hinten im Triebwagen, inmitten der anderen Passagiere? Jeder Pendler oder Bahncard-Nutzer kennt das. Doch vorne im Fahrerstand scheint eine halbe Stunde schon vorbei zu sein, kaum ist der Zug losgefahren.

Wieder ein Halt, wieder den Fahrerstand wechseln. Ein kritischer Blick aus dem Fenster.

Sind alle Türen geschlossen? Befinden sich alle Fahrgäste im Zug? 14 Uhr. Der Zug kommt ins Rollen, die Lautsprecher ertönen.

„Guten Tag, verehrte Fahrgäste, ich begrüße Sie im Interregio-Express nach Aalen und wünsche eine angenehme Fahrt.“ Die Zugansagen bleiben die einzigen Gespräche, die Seiffert während der Arbeit führt. So gut wie kein Kontakt zu den Fahrgästen, ganz alleine, vorne im Fahrerstand. Langeweile? Gleichförmigkeit, Wiederholung? Einsamkeit? „Ja, manchmal schon“, gibt Seiffert zu.

Innerhalb von Sekunden nimmt der Zug Fahrt auf. Die unzähligen Gleise am Ulmer Bahnhof verzweigen, verschwinden, kurz darauf ist nur noch eines zu sehen. Ein leises Rauschen. Gleichmäßig, nicht unangenehm.

Irgendwie beruhigend. Konzentriert bleiben.

Fuß hoch, kurz runter vom Pedal. Draußen ziehen Felder und Wiesen vorbei, hell, saftig grün, bunt. In der Ferne die ersten Häuser.

„Nächster Halt: Langenau. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.“Und wieder derselbeAblauf: Kurzer Halt, ein Blick aus dem Fenster. „Da kommt noch ein Mädchen, warten wir kurz“, sagt Seiffert. Die eiligen Schritte hallen auf dem Asphalt,werden immer lauter – und verstummen.

Fenster zu, weiter. Die Achtung vor dieser Arbeit steigt. Bei immer demselben Ablauf konzentriert bleiben, auf alles achten, an alles denken. Kein einfacher Job. Und doch wissen die Fahrgäste nicht, was dahinter steckt, bekommen so gut wie nichts mit. Der Zug fährt, von A nach B kommen, das ist alles. Mehr interessiert nicht.

Seiffert macht aber auch nicht den Eindruck, als brauche er Anerkennung. Er macht die Arbeit aus Leidenschaft, wie er selbst sagt.

Dass erwartet wird, dass die Züge an 365 Tagen imJahr fahren, stört ihn nicht. Arbeiten an Ostern, Weihnachten und Neujahr – ganz normal. Einschränkungen im Privatleben, in der Freizeit, bei der Familie – unumgänglich, da im wechselnden Schichtbetrieb gearbeitet wird.Ameinen Tag um3 Uhr morgens beginnen, amanderenum12 Uhr mittags. Strecken, die sich wiederholen, tagtäglich. Manchmal auch Langeweile.

Immer derselbe Ablauf zu Dienstbeginn: Bei der Dienststelle melden, die gedruckten Strecken- oder Zeitabweichungen für den Tag abholen, mit den tagesaktuellen Aushängen abgleichen.Dann wird das Fahrzeug zugewiesen – einen „eigenen“ Zug gibt es nicht. Um den Zug laufen, den Tank und dasHeizöl prüfen, dieMotoren starten. Druckluft und Türen checken, vom Standplatz bis zum Bahnsteig fahren. Vielleicht wieder dieselbe Strecke wie gestern. Und vorgestern. Trotzdem kann sich Seiffert keinen schöneren Job vorstellen.

Das gelbe Ortsschild vonGiengen erscheint. Nicht mehr lange bis zum Ziel. Heidenheim, sieben Minuten. Auf den Gleisen scheinen die Orte viel näher beieinander zu liegen, als sie es tatsächlich sind. Schilder mit Kilometerangaben, Warnsignale, Streckenmagneten. Nach knapp zwei Stunden ist alles schon unglaublich vertraut. 14.30 Uhr,Einfahrt in den Bahnhof Heidenheim, weiße Schrift auf blauem Grund, wie an jeder Haltestelle. Menschen, die nach der Arbeit auf den Zug warten, Kinder, die von der Schule kommen. Wie auf Kommando setzen sie sich in Bewegung und laufen dem Zug hinterher, bis er zum Stillstand kommt.Die einen steigen aus, die anderen ein.

Ständiger Wechsel. Allein Seiffert bleibt, bis seine Schicht zu Ende ist. Wieder und wieder.