44 Treppen sind es nach oben. Und man bedenke, dass man dieselbe Anzahl auch wieder hinuntermarschieren muss. Kein Wunder also, dass die Goickes fit sind.
Denn seit sage und schreibe 50 Jahren vollziehen sie dieses ganz individuelle Sportprogramm. So lange nämlich leben Liselotte und Günter Goicke bereits in ihrer Mietwohnung im Giengener Bahnhof. Ein Leben neben den Gleisen sozusagen.
Und ein solches hinterlässt natürlich Spuren. Ein Beispiel? Die Goickes kennen den Fahrplan inund auswendig, sie wissen intuitiv, wann der nächste Interregio nach Ulm einfahren müsste. „Das geht irgendwann so über“, sagt die 78-jährige Liselotte Goicke.
Auch an frühere Zeiten erinnert sich das Ehepaar gut zurück. Der Lärm der einfahrenden Dampfzüge, die Geräuschkulisse der Rangiererei und der Menschenmassen, die sich zu früheren Zeiten noch auf dem Bahnhof tummelten – all das hat das Ehepaar noch lebhaft in den Ohren. Ja, Lärm sind sie gewohnt. „Aber er hat uns nie was ausgemacht“, sind sich die Goickes einig.
Und wie lebt es sich sonst so in einem Bahnhofsgebäude? Zwei Zimmer, Küche, Bad? Nun ja. Anfangs ließen die Räumlichkeiten doch einige Wünsche offen. Wer sich an frühere Zeiten nicht mehr erinnert: Die Goickes hatten etwa kein Bad in ihrer Wohnung. „Das war zu dieser Zeit so“, erklärt Liselotte Goicke. Nach einem Umbau aber war das Paar mit der Wohnung zufrieden. Vier Kinder haben sie dort groß gezogen. „Wir leben jetzt super hier“, sagt Günter Goicke. Auf den Tag genau am 14. Februar 1964 ist das Ehepaar in den Giengener Bahnhof eingezogen. Bis dahin hatte Günter Goicke bereits einiges erlebt. Der gebürtige Königsberger war während des Zweiten Weltkriegs noch Schuljunge, in den letzten Tagen war er im Einsatz. Nach dem Krieg floh er 1947 aufgrund der Hungersnot in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ins Baltikum. 1951 kehrte er nach Ostberlin zurück, 1955 floh er in den Westen Deutschlands. So kam er nach Aalen, wo er Liselotte kennenlernte. Schnell musste ein Beruf her. An die Bahn als Arbeitgeber hatte Günter Goicke anfangs nicht gedacht. Überraschend war die Entscheidung aber nicht, waren doch Vater und Großvater bereits auf den Gleisen tätig. Ebenso die Vorfahren seiner Auserwählten.
Also machte Günter Goicke eine Ausbildung zum Zugbegleiter, und eine weitere zum Stellwerkswärter. In Giengen nahm er später den Posten des Rangierleiters ein.
Die Arbeit hatte er quasi immer vor der Tür. Auch seine Frau war 28 Jahre lang für die Bahn tätig. Sie pflegte die Übernachtungsräume für die Lokführer und Schaffner, die vor Ort Halt machten.
Ja, das waren völlig andere Zeiten damals, in den 60er, 70er und 80er Jahren. 65 Bahnbedienstete arbeiteten auf dem Giengener Bahnhof. Güterabfertigung, Rangieren, Büro, Kasse – es gab einiges zu tun. „Heute wird alles über Heidenheim gesteuert. Vieles läuft ja auch automatisch“, sagt der 81-jährige Günter. Und nach Jahrzehnten bei und neben der Bahn, beschäftigt diese das Ehepaar noch heute. „Klar verfolgen wir die aktuellen Entwicklungen bei der Bahn“, lässt Günter Goicke wissen. Für einen Ausbau der Brenzbahn, für eine Verbesserung hier vor Ort, würde er sich stark machen. Ja, der begeisterte Bundesbahnobersekretär a.D. hält sich auf dem Laufenden.
Und weil die Goickes nun schon so lange im Giengener Bahnhof leben, hatte sich kürzlich hoher Besuch angekündigt. Eine Delegation der Station & Service AG Stuttgart und Ulm überbrachte Glückwünsche. Liselotte Goicke: „In ganz Baden-Württemberg gibt es niemanden, der so lange im Bahnhof lebt.“ Zwar hatten die Goickes immer mal wieder darüber nachgedacht, umzuziehen, letztlich aber überwogen die Vorteile der Bahnhof-Wohnung. Denn so laut es früher war, so ruhig sei es heute. „Wir haben nur einen Nachbarn und einen super Ausblick“, sagt Liselotte. Und: „Wir laufen raus und steigen in den Zug ein, wir sind also ohne Auto wunderbar mobil“, ergänzt Günter Goicke. Er ist sich sicher: „Man muss mich hier raustragen.“