Es war ein Tag im August, als Ferdinand Rohrhirsch zum ersten Mal in seinem Leben eine Demonstration besuchte – im Alter von 53 Jahren. Der Grund dafür war simpel: Er war wütend. Wütend auf die Geschäftsführung der Deutschen Bahn, die Milliarden für ein schlecht geplantes Projekt ausgeben wollte, und wütend auf Politiker und Verkehrswissenschaftler, die dieses Vorhaben auch noch als alternativloses Jahrhundertprojekt bezeichneten. 'Ich hatte das Gefühl, man will mich für dumm verkaufen', sagt Rohrhirsch.
Vorangegangen war dieser Feststellung fast ein Jahrzehnt, in dem der gebürtige Bayer versucht hatte, sich ein Bild von Stuttgart 21 zu machen. Wie gründlich er das getan hat, lässt sich in seinem Haus in Esslingen besichtigen. Dort steht ein dicker Leitz-Ordner im Regal seines Arbeitszimmers – prall gefüllt mit Dokumenten, Skizzen, Plänen und Broschüren der Bahn. Sie alle haben dazu beigetragen, dass der Theologe und außerplanmäßige Professor für Philosophie an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt Stück für Stück seine Meinung geändert hat. Denn zunächst wollte er nicht glauben, was ihm ehemalige Arbeitskollegen erzählt hatten. Rohrhirsch kommt aus einer richtigen Eisenbahnerfamilie: Sein Vater war bei der Bahn, sein Großvater war bei der Bahn, sein Urgroßvater war bei der Bahn. Und auch Ferdinand Rohrhirsch hat in den 70er-Jahren eine Ausbildung bei der Deutschen Bahn gemacht und einige Jahre im Ulmer Hauptbahnhof gearbeitet. Noch immer hat er Kontakt zu ehemaligen Kollegen. 'Immer wieder haben die über Dinge berichtet, die konnte ich einfach nicht glauben', sagt er. Von abenteuerlichen Streckensteigungen und 'fast schon kriminellen' Bahnsteigneigungen bei Stuttgart 21 erzählten sie ihm. Rohrhirsch hielt das zunächst für übertrieben. 'Die Bahn ist nicht so blöd, etwas derart Unsinniges zu planen', dachte er. 2009 hörte er einen Vortrag, in dem der ehemalige Leiter des Stuttgarter Hauptbahnhofes, Egon Hopfenzitz, Stuttgart 21 scharf kritisierte – und änderte seine Meinung. 'Wenn ein solcher Fachmann das sagt, muss etwas dran sein', dachte er und begann sich genauer zu informieren.
Das Resultat hat er nun auf 70 Seiten zusammengefasst und als Buch veröffentlicht. 'Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21' lautet der Titel, der gleichzeitig als Inhaltsangabe zu verstehen ist. Eine Mischung aus Biografie und Philosophie sei das Werk, sagt Rohrhirsch. Er erzählt darin nicht nur von seinen persönlichen Erfahrungen mit der Bahn, sondern widmet sich auch der Frage, welche Vorstellungen von Zukunft und Fortschritt mit einem Projekt wie Stuttgart 21 verbunden sind. Zum Beispiel das Prinzip des Wachstums als Selbstzweck etwa, mit all seinen Auswüchsen. Etwa jener Ansicht, die Rohrhirsch bei einigen Befürwortern ausmacht: 'Lieber bauen wir etwas Falsches, als gar nichts!'
Ethische Fragen beschäftigen Rohrhirsch auch in seinem beruflichen Alltag. Neben seiner Lehrtätigkeit in Eichstätt arbeitet er unter anderem auch als Coach für Führungskräfte von Banken, mittelständische Unternehmen und sozialen Einrichtungen. 'In diesen Gesprächen wird häufig auch der Sinn des eigenen Handelns thematisiert', sagt Rohrhirsch. Auf die Frage, was er etwa Bahnchef Rüdiger Grube in einer solchen Beratung sagen würde, antwortet er: 'Es wäre zunächst einmal sehr interessant zu sehen, ob er im direkten Gespräch auch der unerschütterliche Macher ist, an dem alles abperlt.' Aus Beratersicht hat Rohrhirsch eine eigene Deutung von Grubes Vorgehen in Sachen Stuttgart 21. 'Inhaltlich fehlt ihm zunächst einmal eine gewisse Kompetenz, die er in seiner Position aber auch nicht unbedingt haben muss.' Dennoch führe dieser Mangel zu Fehleinschätzungen.
Hinzu komme: Für Menschen, die in einer Hierarchie weit oben stehen, sei es nicht einfach, die Wirklichkeit im Blick zu behalten - selbst wenn sie wollen. 'Vorstände, Bischöfe oder Geschäftsführer sind ständig von Assistenten, Referenten oder Beratern umgeben. Und diese filtern und sieben aus', erklärt Rohrhirsch. Mittelständler hätten da einen Vorteil. Einmal am Tag durch die Produktionshallen zu gehen, sei das beste Mittel gegen Realitätsverlust. 'Einen Monat lang Zugbegleiter im Schichtdienst zu sein, wäre auch für Herrn Grube ideal, um die Realität der Eisenbahn mitzubekommen', so Rohrhirsch. Tatsächlich ganz nah dran an der Wirklichkeit von Stuttgart 21 und den eventuellen Folgen sind hingegen Rohrhirschs Bekannte bei der Bahn – Lokführer zum Beispiel. Sie kennen die Risiken und Probleme, dürften jedoch nichts sagen. 'Ihnen wurde ein regelrechter Maulkorb verpasst'. Aus Konzernsicht wohl nicht ganz unberechtigt. Denn Rohrhirsch sagt auch: 'Ich kenne eine ganze Menge Menschen bei der Bahn. Keiner von ihnen ist für Stuttgart 21. Nach einer kurzen Pause fügt er an: 'Es kann natürlich auch sein, dass ich nur die Falschen kenne'.
Philosophie, Eisenbahn und Stuttgart 21.